BEZIEHUNGSGEFLECHTE

Markus Köhle interviewt: Margarita Kinstner
Margarita Kinstner hat mit "Mittelstadtrauschen" ein faszinierendes Romandebüt hingelegt: Stilsicher, atmosphärisch dicht, dialogstark und kühn verästelt ist dieses sympathisch detailverliebte Mittelstadtrauschen. Wien ist der Handlungsort und wird groß in Szene gesetzt (Prater, Brücken, Kaffeehäuser), zahlreiche Figuren treten auf und deren Beziehungen zueinander erschließen sich im Laufe der Geschichte. Kinstner hat keine Angst vor drastischen Einschüben, ein Gespür, die Spannung zu halten und schafft es zudem, große Themen wie Lieben, Leben und Tod sensibel abzuhandeln.


DUM: Gratulation zum tollen Debüt. Wie lange hast du an "Mittelstadtrauschen" gearbeitet und wie sehr unterscheidet sich die End- (also Buch-) von der Urversion (also Erstausdruck)?

Das Urmanuskript entstand schon 2006. "Oberleitungsschaden - Stationen einer Beziehung" hieß es und war die Liebesgeschichte zwischen Marie und Jakob. Beginn, Höhepunkt, Einsamkeit und Ende. Ich habe das gemacht, was man in Schreibwerkstätten lernt. Ganz genau hinschauen und alle Zügel fest in der Hand halten, sprich: Nicht zu viele Handlungsstränge aufgehen lassen. Schon beim Schreiben merkte ich, dass mir Jakobs Eltern besser gefielen. Da spielte ich mit Klischees und übertrieb. Da machte ich alles, was man in Schreibwerkstätten ausgetrieben bekommt. Ich pfiff auf die so genannte literarische Gerechtigkeit, warf mit schrägen Bildern um mich und hatte Spaß. Aber Stierschneiders waren eben nur zwei Nebenfiguren und ich musste auf Jakob und Marie draufbleiben. Und das in einer ganz ernsten Form. Ein guter Freund gab mir als dann endlich die Rückmeldung, nach der ich mich sehnte: Margarita, sagte er, das ist langweilig, das kann ich nicht lesen.

Im Herbst 2007 war ich schließlich das erste Mal zur Lesewanderung des Grazer Autorinnen und Autoren Kollektivs eingeladen. Ich brauchte einen Text und so begann ich, Marie und Jakob, die sich gerade im Kaffeehaus kennenlernen, von oben zuzusehen (Ich stellte mir dabei eine Art himmlischen Kommentator vor - ein Zyniker durch und durch). Dass Joe am Ende der Szene aus dem Donaukanal gefischt wurde, hatte nur einen Grund: Ich wollte immer schon meine "große Liebe von damals" im Donaukanal ertränken. Nun ja, und nach der Lesung gab es dann Standing Ovations und alle fragten mich nach Joe, ob das ein Romanbeginn und ob er die Hauptperson sei. Also blieb ich bei dem Stil und nach und nach purzelten mir immer mehr Romanfiguren in die Handlung. Ich schrieb die Szenen alle recht durcheinander und ein Jahr später stand ich verzweifelt vor meiner Küchentür, auf der lauter bunte Post-its klebten, und fragte mich, wie da jemals ein Roman draus werden sollte. Die Szenen wuchsen dennoch an, das Chaos auf meiner Küchentür wurde immer unübersichtlicher, aber ich wusste: Das ist der Roman, den ich schreiben will. Ich kann da ziemlich stur sein. Im Dezember 2010 war mein Oberleitungsschaden, der mittlerweile in Mittelstadtrauschen umbenannt worden war, endlich fertig.

DUM: Und dann ging es an die Verlagssuche, nehme ich an. Oder hast du Teile davon schon in Literaturzeitschriften veröffentlicht? Du bist ja selbst aktiv in der Literaturzeitschriftenszene. Magst du uns da bitte einen Einblick geben?

Das zweite Kapitel meines Romans erschien tatsächlich kurz nach seiner Entstehung - und zwar hier, im DUM. "Partner.Wechsel" lautete das Thema, da passte die Szene, in der Jakob mit Marie schläft und Sonja Liebeskummertränen weint, ganz gut hinein. Durch die DUM-Lesung im Anno bekam ich zwei Einzellesungen, lernte andere Wiener AutorInnen kennen, kam mit der Slamszene in Kontakt und schließlich gestaltete ich die Lesereihe ALSO * mit sowie ich Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift "& Radieschen" wurde. Wie man sieht also, eine Veröffentlichung im DUM kann durchaus lebensverändernd sein.

Als ich mit meinem Manuskript fertig war, schickte ich es an einen kleinen Wiener Verlag, da ich einige kannte, die dort veröffentlichen. Ich wartete und bekam eine Absage. Da war ich erst einmal am Boden zerstört. Am nächsten Tag flatterte ein Mail von Andrea Stift in meinen Posteingang. Sie war auf meinen Blog gestoßen und gab mir positives Feedback auf das erste Kapitel, das ich hochgeladen hatte. Ich hatte ihren Roman "Klimmen" gelesen, mochte ihn sehr, kannte die Autorin aber nicht persönlich. Ihr Mail motivierte mich so sehr, dass ich mir einen Laserdrucker und 2 Boxen Kuverts zulegte. Ich rechnete damit, an die 100 Verlage anschreiben zu müssen. Letztendlich blieb es jedoch bei sechs. Der erste Verlag, der sich für mein Manuskript interessierte, gab mir die Rückmeldung "peilen wir 2013" an. Das war mir zu vage. Kurz nachdem ein Verleger eines recht neuen, aber sehr engagierten Kleinverlages sein Interesse bekundet hatte, meldete sich Deuticke, dass ihnen die Probe, die ich ihnen 3 Monate zuvor geschickt hatte, gefallen habe. Das war die schlimmste und gleichzeitig schönste Zeit. Mir war es immer ganz wichtig, mit offenen Karten zu spielen. Gerade Verleger von kleineren Verlagen verlieren sehr viel Zeit, wenn sie ein Manuskript lesen und vielleicht schon überarbeiten, das sie dann gar nicht drucken. Am Freitag, 20. Jänner 2012 bekam ich dann die Zusage von Martina Schmidt. So ein Datum merkt man sich, das ist wichtiger als der erste Kuss. Für mich ging an diesem Tag ein Lebenstraum in Erfüllung.

DUM: Kannst du dich an das Datum des ersten Kusses auch erinnern?

Ja, das war der 19. März 1990 :-)

DUM: Und weil wir gerade beim Küssen sind. Es dreht sich in "Mittelstadtrauschen" ja viel um die große Liebe und darum, dass die Meisten sich mit einer kleinen Liebe begnügen müssen. Ist das traurig oder pragmatisch und wie hältst du es mit der Romantik?

Die Realität - ja, die ist oft traurig. Und mein Verstand denkt manchmal sehr pragmatisch. Im Grunde meines Herzens bin ich aber noch immer eine große Träumerin. Ich hoffe, dass es sich mit der Liebe irgendwann genauso verhält wie mit dem Buch: Noch vor 2 Jahren hat mir jeder gesagt: Nie und nimmer geht das, dass man ein Manuskript einfach unverlangt an einen renommierten Verlag schickt und die nehmen es dann. Ich wäre damals froh gewesen, einen ganz kleinen Verlag zu finden, der keinen Zuschuss verlangt, aber ich habe es trotzdem auch an Deuticke geschickt, ganz nach dem Motto: Probieren geht über studieren. Und dann wurde es tatsächlich der Traumverlag, dann kam das Hörbuch, dann die Ausstrahlung auf NDR und Ende September war "Mittelstadtrauschen" Buch der Woche auf WDR. Das schönste aber: Ich fühle mich bei meinem Verlag aufgehoben, das ist schon fast wie eine Liebesbeziehung.
Wieso sollte es mit der Liebe nicht genauso sein? Ein Bekannter sagte neulich zu mir: Wenn du es dir wirklich vorstellen kannst, passiert es auch.  Vielleicht hat es auch mit zutrauen zu tun. Manchmal traut man sich einfach selbst viel zu wenig zu, nicht nur im Beruf sondern auch in der Liebe.

DUM: Joe - die geheime Hauptfigur in deinem Roman - lebt viel von dem, was du grad erwähnt hast, ist aber doch auch ein sehr zwiespältiger Charakter. Überhaupt ist es eine Besonderheit von "Mittelstadtrauschen" dass es keine eindeutige Hauptfigur gibt oder siehst du das anders bzw. wer ist deine Lieblingsfigur und warum?

Joe ist die Verkörperung der Romantiksucht schlechthin und deswegen passt er so gut in unsere Zeit. Er ist nicht treu, aber spricht von Marie als seiner einzigen, wahren Liebe. Er stellt die Leidenschaft über alles, lebt in seiner Vorstellung, kann aber keine Nähe zulassen. Mit Joe kannst du wunderbar philosophieren, du kannst dich mit ihm betrinken und über das Leben nachdenken und als Frau wirst du keinen leidenschaftlicheren kennenlernen als ihn. Aber es ist kein Verlass auf ihn. Das ist es aber, worauf es in einer Beziehung ankommt - das Vertrauen.

Das Urvertrauen ist übrigens etwas, das fast allen Figuren in meinem Roman fehlt. Marie, Gery, Anna, Joe und Willy - sie alle kommen aus Elternhäusern, in denen es keine Sicherheit gab. Maries Vater war mit seinem eigenen Leid beschäftigt, Joe wurde missbraucht und Anna wurde schlichtweg nicht geliebt. Das ist etwas, das sich fortpflanzt. Da gibt es Hedi Brunner (übrigens meine ganz geheime Lieblingsperson), die ihren ledigen Sohn weggibt und dann zwei Töchter. Und jedes ihrer Kinder gibt einen Teil seines Leides weiter - sogar Traude, die ihren Mann und ihren Sohn mit ihrer Liebe erstickt. Dennoch ist Hedi kein schlechter Mensch, im Gegenteil, vielleicht hat sie sich sogar zu sehr Gedanken um die anderen gemacht.
Wenn mir andere von Familienaufstellungen erzählen, denke ich immer: Das ist genau das, was ich in meinen Romanen mache. Ich spüre Beziehungen nach. Deswegen wird eine Geschichte für mich auch nie mit zwei Personen allein auskommen. Wir sind alle die Summe jener Personen, denen wir im Laufe unseres Lebens begegnen. Da Schöne beim Romanschreiben ist: Hier bleibt nichts unklar. Hier kenne ich von jeder Person die Geschichte. Im echten Leben weißt du nie mit hundertprozentiger Sicherheit was im anderen vorgeht. Und natürlich wissen es auch meine Romanfiguren nie voneinander.

DUM: Neben dem Prater spielen auch Brücken eine große Rolle. Was hat es damit auf sich?

Ich bin damals anders durch Wien gegangen. Habe ständig nach Orten Ausschau gehalten. Und dann  fand ich eines Tages Joes Wohnung in der Zwölfergasse. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich draufkam, ihn täglich mit ein paar Weingläsern auf der Schmelzbrücke stehen zu lassen. Manchmal zieht mich die Sprache in ihren Rhythmus, und dann ergibt eines das andere. Ich denke beim Schreiben nicht viel, das ist eher so eine Art Rausch und danach wundere ich mich selbst, was da steht und wie ich das nun wieder in die Handlung einbauen soll. Ich glaube, es fing einfach damit an, dass Joes Leiche aus dem Donaukanal gefischt wurde und mir ein Bekiffter vor dem Flex zu langweilig war ...

DUM: Apropos Langeweile. Bist du schon wieder an einem neuen Projekt bzw. wie gestaltet sich dein Alltag momentan?

Ich bin tatsächlich schon an einem neuen Projekt dran. Leider ist das, was ich erhofft habe, nicht eingetreten. Ich dachte: Wenn du einmal einen Verlag hast, dann schreibt sich's ganz leicht. Das ist nicht so, im Gegenteil. Je positiver die Rückmeldungen für Mittelstadtrauschen, desto größer die Angst, das zweite könnte nicht den Erwartungen der LeserInnen entsprechen. Andererseits weiß ich auch: Man muss das Buch schreiben, das man schreiben will. Ich habe ein Jahr lang alles immer und immer wieder in den virtuellen Mistkübel geschoben, bis ich mich endlich getraut habe, meiner Lektorin eine Probe zu geben. Sie hat dann Gott sei Dank gefallen.
Dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Brotjob. Man muss immer pendeln, zwischen finanzieller Sicherheit und dem Bedürfnis, nach der Zeit, sich einmal längere Zeit am Stück auf ein Projekt einzulassen.

DUM: Und jetzt noch eine Entscheidungsfrage: Quantenphysikvortrag oder Praterbesuch?

Ich würde es kombinieren: Ein quantenphysikalischer Vortrag im Planetarium. Den Watschenmann hätte ich auch gerne dabei, der lässt sich sicher einbauen. Ich bin ja eigentlich keine Pratergeherin - ich bin sehr feig und übel wird mich auch ganz schnell. Was mich fasziniert, ist die Geschichte des Praters.

DUM: Wir freuen uns auf weitere Geschichten von dir. Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg.



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