DUM NR. 104

THEMA: DIVERS
Von Identität bis Lebenslauf
Mit: Silke Gruber – Interview * Daniel Stögerer * Reiner Mund * Franziska Zussner * Daniela Dangl * Laura Nußbaumer * Christoph Bruckner * Caro Reichl * Karl Johann Müller * Maria Braig * Elias Flügge * Andrea Berger * Martin Peichl * Nicole Makarewicz * Angelika Polak-Pollhammer * Iris Gassenbauer * Georg Großmann * ChristiAna Pucher * Daniel Fritsch * Annemarie Regensburger * Maë Schwinghammer * Markus Prem * Martin Dragosits * flimmern.fischen

Rezensionen: Robert Kraner – Kreide * Moritz Franz Beichl – Die Abschaffung der Wochentage * Marie Gamillscheg – Aufruhr der Meerestiere

Zeichnungen: Eckholz

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.

DUM-Interview: "GIPFELWATSCHN" mit Silke Gruber



Leseproben aus DUM 104:


BURGUNDER
(Iris Gassenbauer)

Franz spürt einen Stich in den Bandscheiben. Oder dort, wo er die Bandscheiben vermutet, ganz tief drin in der unteren Wirbelsäule, wo er schon einmal eine Spritze hineinbekommen hat und die Ermahnung, regelmäßig lockeres Training am Morgen zu machen. "Um die Muskulatur zu stärken", wie der Orthopäde gelächelt hatte, die Finger zu einem Dreieck zwischen sich und Franz, der kaum von der Liege aufgekommen war.

Franz ist seit drei Uhr im Lager, um zehn ist die Schicht vorbei, bis dahin müssen noch drei Paletten umgeschlichtet werden in C31, seinem Gang. Franz streckt den Rücken durch und versucht die Zehen mit den Fingerspitzen zu berühren, erreicht die Kniescheiben und lehnt sich gegen eine Palette mit Zementsäcken. Um B12 kommt Milan mit dem Gabelstapler gebogen, einarmig fahrend, den Ellenbogen seitlich hinausgereckt, niemand, niemand hat den Wendekreis so drauf wie Milan, auch Hussein nicht. Franz gibt der Palette einen Tritt und sieht auf die Uhr, beschließt Pause zu machen, zumindest inoffiziell und sperrt sich am Klo ein. Irgendwann kommt jemand und brunzt ins Pissoir und auch ein wenig daneben, dann seufzt er und zieht die Nase auf und dreht beim Rausgehen das Licht ab. Franz will nicht auffallen, darum hält er den Mund und sitzt im Finstern in der Kabine ganz hinten, wo jemand eine Nummer an die Wand geschrieben hat und gleich darunter, dass Veronika immer bereit sei. Als Franz die Nummer einmal angerufen hatte, war er bei einer tschechischen Reinigungsfirma gelandet, die Papierhandtücher und Spezialputzmittel im Sortiment führte, das hatte er sich angehört, nachdem es keine Veronika gab und nie gegeben hatte und dann hatte er im Folgemonat eine Sonderrechnung für die Handykosten bekommen.
...



Franziska Zussner

tal
und tradition
engen ein
schon früh
fällt der zopf
im aufbegehren
milde belächelt
die landjugend umwirbt
immer die anderen
zwischen den ballen
in sippenhaft
nutzlos
wie ein abgekoppelter
anhänger dessen bordwände
vor sich hinmorschen



EIN FELD FÜR SONSTIGES
(Laura Nußbaumer)

Natürlich bin ich verwirrt. Ich meine, also, ich habe einen neuen Gmail-Account erstellt, um auf die Spam-Mail einer reichen Waisentochter an der Elfenbeinküste zu antworten, und Google hat mich nach meinem Geschlecht gefragt. The Audacity. Und die Auswahl war "Figürchen mit Hose" und "Figürchen mit Rock" und dann noch "Sonstiges", und es war wie in einer Evaluationsumfrage einer Vorlesung, "Haben Sie noch sonstige Vorschläge wie diese Lehrveranstaltung verbessert werden könnte?" und ich schreibe immer "nein danke", aber hier habe ich "Sonstiges" angekreuzt und ein Feld hat sich geöffnet, oder vielleicht war es das Spektrum zwischen dem linken und dem rechten Hosenbein, und je enger diese zusammenliegen, desto wahrscheinlicher ist es eine Rockfalte im überschlagenen Bein.
"Divers" habe ich in das Feld für "Sonstiges" geschrieben, aber die Bücherei hat beschlossen, Geschlechter gibt es nicht, wir gehen alle auf die Toilette für eingeschränkte Mobilität, und ich habe immer Angst versehentlich die Kordel für den Notruf zu ziehen, wie in einem schrägen Slapstick-Vorfall, der eine Bananenschale und einen Mann im Affenkostüm involviert.

Zu Weihnachten hat mir meine Mutter Zehensocken geschenkt, weil sie denkt, dass mein Geschlecht "weiblich" mit einer Prise "jugendlich verwirrtem Individualismus ist" and I am not like other girls, I don't like my toes touching each other.
"Nein, ich hasse Flipflops aus genau dem verkehrten Grund", versuche ich sie verstehen zu machen.
"Liebes, findest du nicht, du solltest vielleicht in Therapie sein?"
"Also, wenn du es so vorschlägst, sag ich nicht nein."
"Nein, so schlimm ist es noch nicht", sagt sie.
...



EIN KUSS, ZWEI KÜSSE USW. – EINE TYPOLOGIE
(Martin Peichl)

1)
Wartezimmer-Küsse: Da sind Zähne im Weg, sogar die Lippen legen sich quer, nicht einmal beim Kreuzworträtseln werden wir uns einig, das wird nichts mehr mit uns, ich hol mir lieber was aus der Apotheke.

2)
Dammbruch-Küsse: Da reißt etwas auf, Zusammengestautes darf endlich raus und wieder fließen, kennt nur mehr diese eine Richtung, du ertränkst mich, ich ertränke dich, sicher kein schönes Bild, von außen betrachtet.

3)
Bierdeckel-Küsse: So wie wir manchmal einen Abstellplatz für unsere Gläser brauchen, brauchen wir manchmal auch einen Abstellplatz für unsere Lippen, ein paar Minuten Pause, in denen wir nichts sagen müssen, die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt, und mit jedem weiteren Bier werden sie ein wenig enger.
...



GRELLES LEUCHTSTOFFRÖHRENLICHT MIT LEICHTEM GELBSTICH
(Maë Schwinghammer)

Piepsen, richtig digitales Piepsen, so weit entfernt von einem Vogel, wie ein Piepsen nur sein kann. Menschen hinter mir, einer neben mir, kein Ort der zum Verweilen geschaffen wurde, ein Durchzug, Gehirne schalten hier ab, nicht an, letzte Entscheidungen werden getroffen, Kleinigkeiten locken und dann das Vorrücken an den Platz der Sonne, das Scheinwerferlicht, die Blicke hinter mir stoisch auf mich gerichtet, die Spannung steigt. Ich warte auf den einen Satz, meine Ankündigung.
  "Kann ich kurz einen Blick in Ihre Taschen werfen?"
Das ist er. Pause. Steht da. Das ist eine Anweisung. Der Mensch hinter der Kasse blickt in meine Tasche, ob ich will oder nicht, den Hintern vom runden Drehstuhl ohne Rückenlehne schon angehoben, den Blick von erhobener Warte bereits in meine Taschen versenkt. Das ist sein Text. Freundlich Nicken.
  "Danke."
...