DUM NR. 103

THEMA: ABSTRAKT
Von Bild bis Vorstellung
Mit: Gábor Fónyad – Interview * Martin Peichl * Daniela Dangl * Helmut Blepp * Johannes Witek * Telja Reinersmann * Andrea Berger * Rainer Wedler * Tara Meister * Astrid Holzmann-Koppeter * Britta Badura * Sebastian Galyga * Annemarie Regensburger * Christoph Bruckner * Daniel Stögerer * Claudia Ploner * Andreas Lehmann * Raven E. Dietzel * Monika Fischer * Harald Vogl * Johannes Bruckmann * Benjamin Wimmer * Paplanka Polenta * Max Aichmair * Aylin Ünal * ChristiAna Pucher * Silke Gruber * flimmern.fischen

Rezensionen: Georgi Gospodinov – Zeitzuflucht * Stefan Kutzenberger – Kilometer Null * Andreas Nastl – Immer ist irgendwas

Zeichnungen: Eckholz, Oleg Estis und Gabriele Müller

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.

DUM-Interview: "ALS JESUS IN DIE PUSZTA KAM" mit Gábor Fónyad



Leseproben aus DUM 103:


FEINE KLINGE
(Daniela Dangl)

Die Ledercouch ist nur ein schlammgrüner Ohrensessel mit abgesessenen Schnürlsamtbahnen oder ein billiger Ikea-Wippstuhl. Trotzdem rede ich. Meine Zungenschläge dreschen Geheimnisse aus dem Mund. Alles bekommt einen Begriff, ist nicht mehr nur ein abstraktes Gefühl, das um Entschuldigung bettelt. Es ist herausgeredet. Die Erinnerungen liegen wie geschuppte Fische auf dem Tisch und warten darauf, von der kundigen Messerwetzerin geschröpft und filetiert zu werden. Schließlich bezahle ich sie dafür.

Angst. Wieder einmal. Einmal ausholen mit der Hand und wir fliegen durchs Zimmer! Also sei still. Warte. Morgen ist alles vergessen.

Papa aß abends Sardinen in Tomatensoße und trank. Blieb es nicht bei einem Bier, wussten wir, dass Mama die leere Blechdose wieder um die Ohren flog. An der kalkweißen Küchenwand sah das Paradeismark aus wie Blut. Wenn es wieder einmal so weit war, flohen wir. "Verschwindet!", brüllte Papa und trat gegen alles um ihn herum. Mama schwieg, hielt uns den Weg frei. Wir Mädchen rannten in unser Zimmer und schoben die Kommode vor die Tür. Dann krochen wir ins Bett. Die Tuchent über unseren Köpfen war ein Schutzwall, darunter trauten wir uns kaum zu atmen.
Je älter ich wurde, desto unerträglicher geriet dieser Wahnsinn. Papa hatte kein Recht dazu! Stickig und heiß war die Wut, die sich in meinem Brustkorb breit machte. Ich schwor, mich nie mehr vor meinem Vater zu fürchten.
In einem günstigen Moment fischte ich diese Rasierklinge aus dem Mistkübel, machte sie zu meiner Komplizin, die unter meinem Kopfpolster, in einem Taschentuch eingewickelt, wartete, einen allerletzten Schnitt zu tun.
...



VARIATIONEN ÜBER MÄRZ
(Helmut Blepp)

Ich habe mich selbst im Baum gekreuzigt. Danach bin ich zur Menschheit hinabgestiegen, um eine zu rauchen. Jede Passion braucht ihre Pausen.

Ich widerstehe Erniedrigungsgewohnheiten, indem ich nicht widerstehe. Das verwirrt meine Feinde.

Wird ein Doktor krank, dann geht er zum Professor. Wird ein Priester krank, dann geht er zum lieben Gott. Werde ich krank, dann habe ich nichts zu lachen.

In der Mittagspause stehen wir gerne in der Sonne und rauchen. Wir machen Wölkchen mit unseren Zigaretten, und nachmittags regnet es dann.

Die Kartoffelfeuer im Herbst habe ich geliebt. Sie waren voller Geschichten, und ich konnte mir heimlich wünschen, wer brennen sollte. Ich habe natürlich nichts wahr gewünscht.

Mein Freund ist außerhalb der Klinik krank. Da hat er viel mehr Möglichkeiten, verrückt zu sein.

Sonntags ist frei, deshalb eignet sich der Sonntag zum In-der-Wiese-Liegen. Wir sind gebadet und gekämmt und kichern, wenn dicke Mädchen vorübergehen. Sie verraten nicht, wohin sie gehen, aber sie geben Antwort.
...



ASTRBATKOIN DER SRPHCAE
(Telja Reinersmann)

Wenn
Gdctiehe vrrreezt
Und
Rtoeihrk vekerrht
Wrid,

Wnen
Bdutuneeg verkälrt
Und
Väntdsriens vrepsrert
Wird,

Ist dann
Die Srhcpae
Arbastkt?



FILAMENTE
(Sebastian Galyga)

FILAMENT I - Zwischen den Zähnen. Der Sand, der noch in seinen Haaren hängt. Meersalz und Talg mischen lösen sich im Speichel.

FILAMENT II - Ihre Mutter fängt am Steuer an zu weinen. Niemand sagt etwas. Wir sind vierzehn und werden vom Eishockey abgeholt. Es läuft keine Musik. Weil es noch kein Bluetooth gibt. Zwei von uns haben blaue Augen. Ihr Vater vor einem halben Jahr gestorben. Ihre Mutter zwingt sich, weiterzumachen wie bisher.

FILAMENT III - In einem Kiosk bricht sie zusammen. Wir sind betrunken. Sie schreit. Neben dem Bier werden Mangos verkauft.

FILAMENT IV - Die Zäune um die Kuhweide knistern in regelmäßigen Abständen. Die Luft ist feucht. Viel gebe es nicht mehr zu sagen. Sagt sie zum dritten Mal. Wir wissen beide nicht, wie man Schluss macht.

FILAMENT V - Wir packen unsere Sachen und verlassen das Hotel. Er will noch einmal auf den Atlantik schauen, bevor wir fliegen. In einem Straßen-Café läuft King Crimson. Wir bestellen zwei Bier.
...



DAS TUCH
(Aylin Ünal)

Dein Vater ist ein besonderer Mensch, meine Süße. Er hatte es sehr schwer, wie alle besonderen Menschen. Alle waren gegen ihn, seine Idee war zu groß für sie. Es klingt wie ein Märchen, doch die Geschichte ist wahr.

Es begann, als er zum ersten Mal das Tuch sah, das ich jeden Monat benutzte. Ich hing es gerade zum Trocknen auf, als er auf den Balkon trat und mich sah. Sofort riss ich das Tuch von der Leine und kauerte mich auf den Boden, mein Gesicht von ihm abgewandt. Ich spürte die rauen Fasern in meinen Händen, meine Finger umklammerten den Stoff, als könnte ich ihn dadurch verschwinden lassen und seinen Blicken entziehen.
"Shanthi?"
Es war damals noch ungewohnt, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. Wir waren gerade erst zwei Wochen verheiratet, vorher hatten wir uns kaum gekannt. Nachts waren wir zwar keine Fremden mehr, doch im Tageslicht betrachtete ich oft sein Profil und versuchte die Linie zu begreifen, an der dieser Mensch begann.
Seine Hand berührte meine Schulter und er wiederholte meinen Namen.
"Was hast du da?"
Ich stand auf und schob das Tuch unter meinen Sari.
"Es ist nichts, Arun."
Doch dein Vater ließ nicht locker, bis er den Stoff sah und berührte. Ich dachte, ich müsste sterben vor Scham. Er konnte nicht glauben, dass ich jeden Monat dieses alte, dreckige Tuch dafür benutzte.
...