DUM NR. 100

THEMA: PANORAMA STATT PANDEMIE!
Where is my mind? – rosige Aussichten?
Mit: Daniela Dangl – Interview * Johannes Witek * Annemarie Regensburger * Katrin Oberhofer * Angelika Polak-Pollhammer * Ella Theiss * Marlene Schulz * Andreas Lehmann * Silke Gruber * Jan Decker * Roland Grohs * Johanna Schmidt * Hannes Thauerböck * Anna Magdalena Mähr * Elora Marx * ChristiAna Pucher * Boris Grkinic-Lee * Franziska Zussner * Jule Viefhues * flimmern.fischen

Rezensionen: Kapka Kassabova – Am See * Anaïs Meier –Stockente * Gábor Fónyad – Als Jesus in die Puszta kam

Zeichnungen: Eckholz, Oleg Estis

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.


DUM-Interview: "GENAUER AUF ETWAS DRAUF ZU SCHAUEN" mit Daniela Dangl



Leseproben aus DUM 100:


GUSTL
(Johanna Schmidt)

Der Gustl ist an sich ja ein recht einfach gestrickter Mann. Seit 58 Jahren ist das schon so, auch als Säugling war er weder auffällig noch besonders ruhig, ein Kind eben, das einem nicht in Erinnerung bleiben mag, obwohl die Genügsamkeit des kleinen Binkerl, wie er gerufen wurde, schon damals bemerkenswert war. Auch daran hat sich nicht viel geändert in den vergangenen knapp sechs Jahrzehnten. Der Gustl hat's immer recht gut alleine ausgehalten in seiner anderthalb-Zimmerwohnung mit Küchenzeile, Wohn-Ess-Bereich und Kabinett, hin und wieder vielleicht über dieses und jenes nachgedacht, aber über nichts von großer Wichtigkeit. Und wenn er doch einmal über etwas länger sinnieren musste, hat es zur Ablenkung ja noch immer das Espresso an der Gürtelkreuzung gegeben. Keine fünf Minuten hat er dorthin gebraucht, was für den Hin-, aber vor allem für den Heimweg von großem Vorteil war. Nicht selten kam es nämlich vor, dass er dann ein, zwei Krügerl zu viel in sich hineinschwieg und die Damenwelt rund um sich allzu offensichtlich beliebäugelte. Die meisten kannten ihn aber schon und schickten ihn dann nach Hause, was der Gustl im Normalfall auch befolgte. Er wollte schließlich keinen Wickl, das lag nicht in seinem Naturell und so ließ er den warmen Biersud auf der Budl stehen und verabschiedete sich mit einem nicht sichtbaren Nicken und einem Mords-Krawall, den man gewöhnlicherweise liebevoll ignorierte, von dem mittlerweile bekannten Barklientel. So wankte der Gustl auch am letzten Abend heim. Es war ein frischer Frühlingsabend, Mitte März, an dem man Atem und Zigarettenrauch nicht mehr auseinanderkennt. Er eckte ein paarmal an der Fassade an, bis er das Türschloss gefunden hatte, und rumpelte ins Stiegenhaus, zog sich am gerundeten Altbaugeländer ins Mezzanin und von dort aus in seine neben der Stiege gelegene Wohnung.
...



MONTAG
(Johannes Witek)

Montagvormittag,
zu wenig Schlaf,
es ist kalt und pisst
gerade genug um unangenehm zu sein,
du gehst durch graue Straßen
auf der Suche nach einer Werkstatt
du brauchst mehrere Dinge,
darunter einen Reifen,
aber was ist ein Reifen?

Du brauchst außerdem eine Antwort
auf die Frage, ob es einen Gott gibt
und warum wir hochentwickelte Primaten
mit so was wie Bewusstsein sind,
von dem keiner weiß, was das sein soll
auf einem Felsbrocken der sich durch
die Unendlichkeit dreht
(angeblich),
aber es scheitert schon am Reifen.

Du stehst vor einer Werkstatt,
da hängt ein Schild: GEÖFFNET,
die Tür ist verschlossen.
...



WE’RE IN OUR FOURTIES AND THERE IS OUR MIND
(Silke Gruber)

O sagt, dass die App sagt, wir haben schon 38 Kilometer heruntergespult, und dabei sei noch nicht mal Mittag. K sagt, ihr sei vom vielen Radeln eh schon die Mumu eingeschlafen, es sei also eindeutig Zeit für einen Kaffee - oder wollen wir schon Alkohol bestellen? Nein, das möchte noch keine, weil grad wenig war es ja gestern auch nicht, hihi, aber mit der Tageszeit hat das jetzt nichts zu tun, weil daheim trinken wir um diese Zeit manchmal auch schon einen Spritzer, genau.

K mag am liebsten Espresso und O am liebsten Caffè Latte, aber in dem winzigen Café sieht es stark nach Selbstbedienung aus, und wenn sich K schon dazu bereit erklärt, die Bestellung aufzugeben (und wenn wir schon einmal ohne die Kinder unterwegs sind!), wollen wir es ja nicht kompliziert machen. Als K mit den drei Cappuccino kommt, unterhalten O und ich uns gerade über das Wort Mädlstrip und die Bezeichnung Mädls generell. Dass wir überhaupt keine Mädls mehr sind, das ist uns natürlich klar, wir sind Zwei- und Dreifach-Mütter, eine Mutter kann kein Mädl sein, wir sind längst Frauen, aber so können wir uns auf keinen Fall bezeichnen. Vor allem klingt "Frauentrip" auch irgendwie sehr nach minderwertigem LSD. Gelächter über meinen gelungenen Witz, minderwertiges LSD, haha, Frauentrip, gewaltig, wir lachen uns lauthals tot, das dauert. O meint: Das war jetzt der klassische Sichtotlachen-Anfall im Kater, da schießen die Tränen viel schneller und richtig waagrecht aus den Augen und das Bauchweh vom Lachen tut dreimal so weh, als wenn man am Vortag nur Soda Zitron getrunken hätte, das gäbe es ohne Kater nicht und das sei eigentlich schon ein geiles Gefühl. Ich finde, da würde jetzt sehr gut das Thema Sex hereinpassen, weil Sex im Kater natürlich auch immer viel intensiver, aber O sagt nein, über Sex haben wir gestern schon genug geredet, ihr wisst ja, wer zu viel darüber redet, tut es zu wenig, haha, nächster Lacher, und K sagt, sie bereue immer noch, den jungen Kellner als "Früchtchen" bezeichnet zu haben, diese Art von Humor bezeuge eindeutig, dass sie in unserer Clique die nächste sei, die vierzig werde.
...



WIENER ZWEIWOCHENBUCH
(Jan Decker)

1
Schnee fällt auf Wien. Gestern waren wir mit den Kindern am Kahlenberg Schlitten fahren. Unter uns die Stadt wie ein Teller voller symmetrisch angeordneter Krümel, dazwischen schwarze Olivenspieße, die wenigen Hochhäuser. Alles in ein dampfendes, milchiges Licht gehüllt. Mich begeistert der Blick von den Hängen des Wienerwalds auf die flache, weit ausgestreckte Stadt jedes Mal, seit wir vor genau sechs Monaten von Osnabrück hierhergezogen sind. Es ist ein Alpenblick, von einem krass ansteigenden Gelände auf eine dadurch schräg erscheinende Talsohle hinab, eine optische Täuschung, auch weil dort unten eben kein Alpendorf, sondern eine Menschensiedlung mit fast zwei Millionen Einwohnern liegt. Die Kinder sprechen die ersten Brocken Wienerisch. Wie schnell alles geht!

2
Der ganze Schnee ist einen Tag später schon wieder geschmolzen, aber ein kalter Februarwind bläst uns um die Ohren. Die Kinder haben seit elf Monaten so gut wie keinen Schulunterricht. Sie ertragen die Pandemie bislang mit Fassung, aber wer weiß, welche Schäden diese in ihrem Inneren anrichtet? Freunde können sie in ihrer gar üppigen Freizeit nicht treffen, außerdem lernen sie, dass die anderen eine Gefahr darstellen und man deshalb Abstand zu ihnen halten muss. Immerhin spielen wir mehr mit den Kindern, wir Eltern ersetzen ein Stück weit ihre Freunde, für sie bestimmt ein zweifelhaftes Vergnügen! Jutta und ich haben die Läuse besiegt und trinken mehr Alkohol. Man fühlt sich ein wenig wie im Krieg.
...



Franziska Zussner

der applaus
verklungen
die kalendersprüche
längst aufgebraucht
nunmehr schmäh-und hackenstad
durch die tage
bevorzugte zufuhr
und perspektive
null
komma josef