DUM NR. 96

THEMA: SOZIALER STATUS – VON PREKÄR BIS MILLIONÄR
Mit: Christian Klinger – Interview * David Bröderbauer * Karin Gayer * Yasemin Sezgin * Gerhard Benigni * Daniel Mylow * Martin Peichl * Yvonne Tunnat * Gudrun Breyer * Marlene Schulz * Angelika Polak-Pollhammer * Michael Wittmann * Annemarie Regensburger * Clara Felis * Yvonne Schwarz * ChristiAna Pucher * Winfried Dittrich * Tanja Paar * Franziska Zussner * Ernad Bradaric * Daniela Dangl * Teresa Urich * flimmern.fischen

Rezensionen: Nadja Bucher – Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung * Sandra Gugić – Zorn und Stille

Zeichnungen: Eckholz, Oleg Estis, Andreas Nastl

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.


DUM-Interview: "DIE LIEBENDEN VON DER PIAZZA OBERDAN" mit Christian Klinger



Leseproben aus DUM 96:


BEI HANSER
(David Bröderbauer)

Wenn er lange spazierte, wenn ihm beim Gehen so viele Ideen kamen, dass an eine Umkehr nicht mehr zu denken war, nahm er für den Rückweg die U-Bahn. Heute war er bis zur Station Kaisermühlen gekommen. Am Bahnsteig standen nicht viele Leute. Er las die Nachrichten auf der Video-Wand, während er auf den Zug wartete. Zuerst Politik, dann Sport. Eine Ankündigung seines neuen Buches erschien auf der Anzeige. Neben dem Cover ein Porträtfoto von ihm. Das, auf dem er nachdenklich aussah. Der Verlag leistete gute Arbeit. Wie man es tat, wenn man an einem Autor viel verdiente.
Erkannt wurde er selten, außer in den bestimmten Kaffeehäusern. Trotzdem sah er sein Gesicht nicht gerne in der Öffentlichkeit, was aber mehr an seinem Verhältnis zu seinem Gesicht lag, als an der Öffentlichkeit. Er wandte sich seinen Schuhen zu, auf denen Erde klebte. Er versuchte sie auf den Linien des Blindenleitsystems abzustreifen. Sein Blick fiel auf eine Frau, die ein kleines Stück entfernt stand. Sie lächelte ihn an.
Vermutlich hatte sie ihn auf dem Foto erkannt. Oder er hatte sie angelächelt, gedankenverloren, wie er es manchmal tat. Ihre Aufmachung war nicht von der billigen Sorte. Der Mantel war gut geschnitten, das Makeup unaufdringlich, aber definiert. Passte in seinen Leserkreis. Konnte sein, dass sie oben in der Uno City arbeitete. Sie lächelte immer noch.
"Hallo", sagte er über die Entfernung hinweg.
Sie legte den Kopf zur Seite und lachte mit makellosen Zähnen.
Wahrscheinlich hatte sie sein Debüt gelesen. Wie die meisten. Ob sie auch etwas anderes von ihm kannte?
Der Zug fuhr ein. Sie stieg eine Tür weiter oben in denselben Waggon. Er überlegte kurz, ob er sich hinsetzen sollte, mit dem Rücken zu ihr. An sich wollte er nachhause, eine Tasse Tee trinken und alles in den Computer gießen, was ihm beim Spazieren eingefallen war. Aber er war müde. Zu müde, um den Laptop einzuschalten, und zu müde, um sich zusammenzunehmen.
Sollte sie entscheiden. Kam sie zu ihm, würde er sie auf einen Kaffee einladen. Kam sie nicht, war es auch gut.
Als die Türen zufielen, war sie bereits auf dem Weg.
"Ich dachte schon, du kennst mich nicht mehr", sagte sie.
Er sah sie an. "Wie kommst du denn darauf?"
...



AUS DEM TAXIFENSTER HERAUS SEHE ICH MAMA
(Marlene Schulz)

War das eben wirklich Mama?
Entschuldigen Sie bitte, sage ich zu dem Taxifahrer. Können Sie da vorne bitte drehen und noch mal hier vorbeifahren?
Wie, nochmal vorbeifahren?
Na, genau da, wo wir eben vor zwei Sekunden waren. Bitte fahren Sie da nochmal entlang, an der Frau vorbei, die in dem Mülleimer gewühlt hat.
Vorbeifahren ist okay, aber ich nehme die Frau nicht mit, wenn es das ist, was Sie wollen.
Nee, will ich nicht. Ich frage mich, wieso dieser Kerl Mama nicht mitnehmen will. Hat er Angst, sie könnte etwas von sich lassen, wenn sie einsteigen würde? Dass etwas kaputt gehen könnte, schmutzig werden würde, nachher riecht, sehr stark riecht, stinkt, gar nicht mehr weg geht, nicht mehr rausgeht aus den Sitzpolstern oder dem Anschnallgurt? Ich möchte nicht wissen, wer hier schon alles gesessen und etwas von sich gelassen hat. Das war sicher nicht immer einwandfrei, und so wie der Kerl sich jetzt verhält, hat es offensichtlich schon des Öfteren Anlass gegeben, Einwände zu erheben, aber das geht mich nichts an, es ist nicht mein Taxi, also schon, für diesen Moment ist es natürlich mein Taxi, aber eben nicht für immer. Er will also Mama nicht mitnehmen.
...



SOZIAL. DAS WAR EINMAL.
(Gerhard Benigni)

Reich war er nie. Der Kurtinger. Und Toffifee. Die sind süßer. Viel süßer als die kugelrunde Lottofee. Die ignoriert ihn. Seit mehr als dreißig Jahren. Immer dieselben Zahlen. Immer dasselbe. Wieder nichts. Ein paar Dreier. Einmal ein Vierer. Zwischendurch mal die Zusatzzahl. Hie und da die letzte Jokerziffer. Einmal die letzten beiden. Das war's auch schon. Unterm Strich. Jede Menge Deppensteuer. Jeden Sonntag. Jeden Mittwoch. Abgeliefert vom Kurtinger. Freiwillig wohlgemerkt. Wobei. Jetzt aufhören? Dann kommen sie sicher. Seine Zahlen. Und dann? Nein, nein. Einmal tippen, immer tippen. Sagt der Kurtinger. Irgendwann, da wird's schon werden. Und er reicher als reich. Der Kurtinger spielt online. Win2day. Oder 2morrow. Oder irgendwann. Wohl eher nie. Das Glück ist kein Vogerl. Sagt der Kurtinger. Es ist ein Arschloch. Und von wegen. Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Der Kurtinger. Der kennt nur eine Strähne. Es ist zum Haareraufen.
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LEICHTES BLUT
(Yvonne Tunnat)

Im Kühlschrank gibt es nur noch Sojamilch, die ich mal in einem Anfall von Kuhmitleid gekauft habe. Die macht aber Flocken im Kaffee. Sieht dann aus als ob sie schon schlecht sei. Google meint, das sei bei Sojamilch normal. Trotzdem eklig.
Es gibt kein Geld für neue Milch. Oder Brot. Oder irgendwas. Ich gehe zur Arbeit, zum Glück ist der Chef heute da. Ich klopfe an und frage: "Krieg ich einen Vorschuss?"
Er guckt mich an und sagt: "Guten Tag Roberta."
Ich warte.
Er nickt, steht auf, geht zum Schrank, zählt zweihundert Euro ab und fragt:
"Soll ich das nicht lieber in Fünfzig-Euro-Raten von den nächsten vier Monaten abziehen?"
"Wozu?"
Er steckt das Geld in einem Umschlag, bereitet die Quittung vor und legt sie mir zum Unterschreiben hin: "Na ja, du arbeitest seit fast einem Jahr hier und hast bisher jeden Monat nach einem Vorschuss gefragt."
Ich unterschreibe die Quittung und nehme das Geld. Der Chef riecht nach Teebaumöl. Er hat schlimme Akne. "Gute Idee", sage ich. "Abgemacht."
Im nächsten Monat muss ich schon am zehnten nach einem Vorschuss fragen. Er gibt ihn mir wortlos. Auf der nächsten Gehaltsabrechnung fehlen dann zweihundertfünfzig Euro auf einmal, so dass ich schon am achten kein Geld mehr habe. Er ist verreist.
Es dauert vier Tage, bis er endlich wieder da ist. Mittlerweile brauche ich dreihundert Euro und schnorre seit Tagen Kippen bei meinen Kollegen. Im Kühlschrank ist wieder nur die Sojamilch, inzwischen ist sie tatsächlich schlecht.
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DAS FREIE LEBEN
(Michael Wittmann)

Keiner im Dorf konnte die Banane so gut wie der Beckham. Auch in der Wiener Auswahl gab es niemanden, der das Flanken und Schießen mit Effet derart beherrschte wie er. Wie es dazu kam, ist schnell erklärt. Es begann mit der Frage: Wie sollen wir's denn schneiden, kleiner Mann? Ein Panini-Sticker, auf dem das Konterfei von David Beckham zu sehen war, erklärte es der Friseurin. Das war der Moment, als aus Klaus Krautbichler einfach nur der Beckham wurde. Sein sportliches Können in Kombination mit seinem Aussehen machten ihn zu dem, der er war: ein geiler Typ. Dieser geile Typ, dieser Beckham, der eigentlich Klaus heißt, das war ich. Bis Anfang 20 ging das gut. Dann gingen mir die Haare aus und ich wurde depressiv. Ich hörte also auf mit Fußball. Hörte auf mit Beckham. Fing zu schreiben an. Aber der Reihe nach.

Es war, wie verabredet, 15 Uhr. Sadio stand in der Tür, seine Sporttasche war noch die von damals. Wir umarmten uns zur Begrüßung. Ich hustete nicht. Er klopfte mir trotzdem dreimal auf den Rücken. Er sagte, dass ich gut aussehe, gut, aber dünn. Dünn schaust aus, sagte er. Ich wollte sagen, dass er eine blöde Sau ist. Stattdessen bat ich ihm Hausschuhe an. Sadio pfiff den Kronleuchter an, nickte anerkennend. Dann die Frage nach der Größe. Ich nannte die Quadratmeterzahl. Er schlurfte durch den Flur ins Wohnzimmer, sein Blick angelte. Hässliches Ding, sagte ich, als er die Holzfigur aus Myanmar hoch hob. Er schlurfte weiter, weiter zu den Fotos. Da, wo Gesichter waren, waren seine Augen, über Landschaften und Objekte sahen sie hinweg. Dann drehte er sich zu mir: Und, Sport, machst noch was? Ich sagte, nicht viel.
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