DER DEN FRÜHLING UMWEINT
ODER
STAUNEN IST TENDENZIELL ASOZIAL

Erika Wurzenrainer interviewt: Clemens J. Setz
Heißen Sie mit mir Herrn Clemens J. Setz willkommen.
Sie müssen sich das so vorstellen: Getrennt durch einen langen welligen Vorhang sitzen Herr Setz und ich wahrscheinlich nebeneinander - zwischen diesen Räumen die sich durch dieses überdimensionale Cape trennen, ist das vorrangig unklar - und sprechen mit der gleichen Stimme in einer einzigen Lautstärke.
Wollen Sie wissen ob er zuerst an ein Huhn oder an ein Ei denkt? Hier kommen die Antworten.


DUM: Gutes neues Buch Herr Setz. Wie gehen Sie generell mit Lob um?
So wie die meisten Menschen, nehme ich an. Ich falte das Lob zu einem kleinen Origami-Kranich und lege es sorgfältig auf die linke Schale jener großen Waage, auf deren rechter Schale ein grauenerregender Dämon hockt: der Dämon der vollkommenen Überflüssigkeit meines Lebens, der Tatsache, dass ich entbehrlich bin.

DUM: Worauf schreiben Sie?
MacBook. Writers' Choice.

DUM: Haben Sie beim Akt des Schreibens schweifende Gedanken die um die LeserInnen kreisen; beziehen Sie potenzielle LeserInnen bei der einen oder anderen Textstelle mit ein?
Nein, beim Schreiben eigentlich nicht. Aber manchmal, beim Überarbeiten denke ich schon: Kann man das verstehen? Könnte man das auch kürzer, kompakter oder klarer sagen? Oder könnte man es vielleicht viel, viel länger und komplizierter sagen? Je nachdem, wo mehr Leben drin steckt.

DUM: Musik und Filme werden ja sehr viel gecovert. Welche drei Bücher würden Sie gerne nachschreiben wollen?
a) "Die Verwandlung" von Franz Kafka - Den Autor möchte ich sehen, der sich zurückhalten könnte, wenn er eine solche Idee für eine Geschichte hätte.
b) "The Cloud Atlas" von David Mitchell - Ich beneide Mitchell unendlich um diesen Einfall: Geschichten in Form einer Matrjoschka-Puppe, die zusammen einen Roman ergeben.
c) "Pale Fire" von Vladimir Nabokov - Allein schon um sich selbst an so einem Vorhaben spektakulär scheitern zu sehen, wäre es wert, dieses Buch zu "covern".

DUM: "Frequenzen" habe ich wie ein Sachbuch über Menschen gelesen. Menschen tun Dinge und Dinge passieren um diese Menschen die sie tun. Fühlen Sie sich grundsätzlich, zum Beispiel beim Bäcker, ins Weltgeschehen völlig integriert oder distanzieren Sie sich (absichtlich) bei den alltäglichen Dingen? Ist das (Er)-Schaffende für Sie wie ein willkommener Eingang in den Ausgang, bzw. umgekehrt?
Ich werde manchmal von normalen Abläufen des Alltags vollkommen hypnotisiert: Etwa wenn ich vor einer Rolltreppe stehe und diese ineinander fließenden Stufen mit den Rillen und die zwischen ihnen hervorblitzenden Blinklichter betrachte. Das ist für mich wie abstrakte Kunst. Natürlich kommt dann immer der Augenblick, wo man von hinten angerempelt und angeflucht wird, weil man den Leuten im Weg steht. Staunen ist ein tendenziell eher asozialer Zustand.

DUM: Gibt es eine Literatur die für Sie mehr Berechtigung hat als eine andere?
Nein, solche Unterscheidungen mache ich eigentlich nicht.

DUM: Jetzt eine Frage aus rein persönlichem Interesse: Was ist ihre Lieblingswitterung?
Leider gibt es in den letzten Jahren bei uns keinen richtigen Frühling mehr. Dem weine ich ein bisschen hinterher.

DUM: Ein Schreibender kann niemals schweigen. In einem Text muss ständig etwas passieren. Schweigen Sie denn gerne beim Reden? Gibt es eine Ausgewogenheit beim Sprechen, Handeln und bei der Stille, die Sie schon gefunden haben?
In meinem Fall würde ich von Ausgewogenheit nicht wirklich sprechen. Es vergehen ganze Tage, wo ich fast gar nicht spreche.

DUM: Können Sie ihre Bücher gut an den Entstehungsprozess (allfällige Änderungen, das Weglassen oder Hinzufügen von Passagen und so fort) anpassen oder fällt Ihnen das Miterleben dieser Art der Evolution ein wenig schwer?
Anpassen muss ich nichts, diese Dinge sind ja schon von vornherein unzertrennlich. Für jeden Autor sind die eigenen Texte lebende Gebilde, sie wachsen manchmal allein vor sich hin, wenn man sie irgendwo liegen lässt, oder zerfallen einfach ohne Vorwarnung, oder verwandeln sich in etwas völlig anderes, das man gar nicht wiedererkennt.

DUM: Was denkt sich in Ihnen zuerst - das Bild oder das Wort?
Hm, ja, gute Frage ... Huhn oder Ei, Ei oder Huhn, was war zuerst da? Ich würde sagen: Das Ei.

DUM: Meist hat man Worte oder Redewendungen die man oft verwendet. Wie halten Sie es damit? Haben Sie derartiges Sprachmaterial, wechseln Sie den Bestand nach abgelaufener Zeit und so weiter? Was befindet sich derzeit in diesem Topf der Verwendung?
Ich habe bemerkt, dass meine Texte sich zunehmend an meine persönliche Sprechweise angleichen (leicht dialektaler Tonfall, viele Füllwörter, etwas stotternd). Das hilft zwar beim Verfassen von Texten, die man laut vorlesen möchte, aber zu dominant sollte diese innere Sprechstimme auch nicht werden, sonst kann man irgendwann nur noch ein einziges Buch schreiben.

DUM: So viele Mächte, so viele große Kräfte und so vieles zu klein um es zu bemerken. Das Thema ist natürlich viel zu komplex, aber nennen Sie mir doch bitte Dinge die Ihnen an der Welt (der Natur, der Gesellschaft und der Politik) imponieren.
Ich finde es bemerkenswert, dass wir so lange überlebt haben, dass unsere Moleküle nicht plötzlich anderen Naturgesetzen gehorchen und zerfallen, dass mein Herz nicht von einer auf die andere Sekunde zu schlagen aufhört, dass Frauen schwanger werden und neue kleine Menschen erzeugen können (obwohl jeder weiß, wie's funktioniert, ist das doch reine Zauberei, oder?) und dass wir in alltäglichen Situationen nicht bei jeder geringsten Irritation aufeinander springen und uns gegenseitig totbeißen.

DUM: Zum Abschluss bitte ich Sie noch um einen von Ihnen erfundenen Satz oder ein Gedicht, um ein Wort oder um aneinandergereihte Buchstaben die Sie schön finden.
"Geteiltes Leid ist halbes Leid, dachte sich die Körperzelle."

Ich wünsche mir dass man sich darüber bis in alle Ewigkeit uneins ist.
Seltsamer Ort, zwischen langen gewellten Tüchern, in dem jeder einen oder mehrere, alle irgendwelche, keiner seinen und doch alle einen haben müssen, sind die Träger aller dieser Namen doch immer unsichtbar. Kaum mehr denkbar freilich, nicht mehr Zuflucht ins virtuelle Nest nehmen zu können.
Herr Setz ist sicher dort, er ist aber auch wirklich da, seines Zeichens Träger und Verwerter aller seiner Buchstaben, hat mit seinem zweiten Buch eine geschehnisreiche dicke Kür vollführt. Ferner war er so freundlich sich mit mir, wenn auch ohne mich, in diese verhangenen Räume zu begeben.
Vielen besten Dank Herr Clemens J. Setz für die Beantwortung meiner Fragen.




VERSTÄRKUNG

Weihnachten, das Sterbegeleit für einen im Wohnzimmer verfallenden Baum, der mit Girlanden, Sternen, Engelpuppen und anderem Kinderspielzeug von seiner bevorstehenden Auflösung abgelenkt wird. Unsicher und ängstlich steht er da und streckt seine Zweige erfolglos nach anderen Bäumen aus. Schon regnen seine Nadeln zu Boden, auf den kleinen quadratischen Teppich, die Krippe und die Geschenke. Gott sei Dank sind da Menschen, die ihm in seinen letzten Stunden Gesellschaft leisten, sie singen ihm vor, knien sich vor ihn hin, zupfen an seinen Ästen herum, hängen ihm glitzernde Infusionen an und lassen ihn in seinem künstlichen Fundament stehen, solange er noch alles mitbekommt, was rund um ihn geschieht - das lange Zusammensitzen der Familie an den Abenden, wenn sich in den Fenstern ein gespenstisches Panorama entfaltet: eine Vielzahl heller Fensterquadrate mit einer Vielzahl kleiner Baumskelette darin, ein Todesbild aus der Zukunft; der weihnachtliche Streit zwischen den Generationen, geworfenes Geschirr, vor dem Kamin weinende Silhouetten und Telefonanrufe von fremden Verwandten mit kleinen, aufgeregten Stimmen.
Das alles ist für ihn bestimmt, als Ablenkung, eine Theateraufführung über ein in der Luft liegendes Thema. Und erst als sein großer, verwitterter Kopf sich vollständig zurückgezogen hat ins Dickicht braun werdender Äste, beginnt die Mutter (im sanften Delirium verwechselt er sie mit dem Föhnwind, der seine Glieder berührt hat, auf der Wiese neben der Autobahn, wo er aufgewachsen ist), ihm den Schmuck abzunehmen. Sie entfernt jedes Stück einzeln, so wie man einen toten Präsidenten entkleiden würde, sie säubert ihn von den traurigen Storchennestern aus Lametta, kehrt die Nadeln zusammen, die er im Todeskampf auf den Teppich geschwitzt hat. Auf seiner letzten Fahrt ist er längst nicht mehr ansprechbar. Niemand singt, niemand sagt kleine Sprüche oder Gedichte auf. Man legt ihn auf die Ladefläche oder bindet ihn auf das Dach des Autos, um mit ihm in den Wald zu fahren, wo man ihn endlich seiner Vergangenheit zurückgeben wird. Wenn er Glück hat, bekommt er es noch mit, bevor er blind und erschöpft auf den schwarzen, vor Regen nassen Haufen seiner Kameraden fällt.

Seit Anfang des Winters war ich nicht mehr aus dem Haus gegangen. Draußen war es kalt und ich hatte keine Lust, mir mehrere Lagen Kleider anzuziehen. Das bevorstehende Weihnachtsfest kündigte sich bereits im Oktober an, in Supermärkten und Schaufenstern, und das alles stimmte mich traurig.
Zur Ablenkung machte ich kleine Dinge kaputt. Eine Fernbedienung, eine Uhr, einen tragbaren CD-Player. Und ich aß Schnee vom Fensterbrett, weil ich hoffte, mich zu erkälten, mir eine hartnäckige, aber ungefährliche Krankheit zuzuziehen.
Auch in der Schule wurde ich schwächer, ein Jahr vor der Matura. Als ich eines Tages vor Desinteresse gar nicht mehr aus dem Bett kam, blieb meiner Mutter wohl nichts anderes übrig, als Verstärkung anzufordern. Meine Großeltern erklärten sich bereit, eine Weile bei uns zu wohnen.
Mein Großvater war, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ungewöhnlich aus der Form gegangen. Er war jetzt so dick, dass er unmöglich auf einen Toilettensitz passen konnte, und ich grübelte lange nach, wie er sich seine Schuhe zubinden mochte, und fand keine Antwort. Sein Gang wirkte wie der Ausdruckstanz zu einer melancholisch blubbernden Melodie auf der Bassklarinette. Ein dicker Mann ist immer etwas Witziges, und tatsächlich lachte ich den ganzen ersten Abend, als wir zusammen beim Essen saßen (ich war tatsächlich wieder aufgestanden!). Es war wie ein Slapstick-Stillleben. Ganz im Unterschied zu der Erscheinung meiner Großmutter: Eine dicke Frau ist immer etwas Ernstes, etwas Folgenschweres. Ein Ergebnis, keine Pointe. Ein an irgendeiner Stelle schiefgegangenes Experiment. Ihr dicker Körper verlieh ihr eine ungewöhnlich tiefe Stimme, vor der ich mich anfangs fürchtete. Eines Tages hörte ich sie abends beim Zähneputzen gurgeln und flüchtete entsetzt in mein Zimmer.
Meine Großmutter trug immer dasselbe dunkelblaue Jäckchen, von dem große, ovale Knöpfe perlten. Diese Knöpfe berührte sie ausschließlich mit den Fingerspitzen, als wären sie sehr kostbar und zerbrechlich; und wenn man sie einmal einen ganzen Tag lang beobachtete, konnte man nicht umhin zu bemerken, dass die Knöpfe sie genauso zärtlich behandelten wie sie die Knöpfe. Als sie bei uns einzog, stellte sie als erstes ein Bild ihres Vaters auf ein Fensterbrett. Niemand hatte etwas dagegen. Sie musste es um sich haben, auch wenn sie verreist war. Das Bild, das einen Mann mit strengem Blick und einem weißen Auge zeigte, hatte schon viele Hotelzimmer gesehen. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, nahm meine Großmutter das Bild vom Fensterbrett und drückte es an sich, als wollte sie ihm die Brust geben.

(aus: DIE FREQUENZEN. Roman. Residenz Verlag 2009).


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