DER PAPIERJUNGE

AUTORIN: SOFIA ANDRUCHOWYTSCH
Rezension von Martin Heidl
"Stanislau um 1900: eine galizische Kleinstadt am Rande der Monarchie. Adelja und Stefa, 'miteinander verflochten wie die Stämme zweier Bäume', einander stützend, einander die Luft zum Atmen nehmend, wachsen gemeinsam auf. Als Adelja den Steinmetz Petro heiratet, wird aus der engen Verstrickung ein Dreieck, aus dem Stefa sich vergeblich zu befreien trachtet. Und als der Magier Thorn mit seinem Zirkus die Stadt besucht, taucht plötzlich der engelsgleiche Junge Felix in Petros Werkstatt auf - ein kleiner Schlangenmensch, sprachlos, biegsam und brüchig wie Papier."

Soweit die Beschreibung des Inhaltes des Romans, der uns ins Jahr 1900 versetzt; eintauchen läßt in den Lebensalltag von Magd und Knecht und Gesinde und Herrschaft. Was für wunderbare Beschreibungen der "damaligen" Verhältnisse, bild- und wortstark übersetzt von Maria Weissenböck.

Könnte auch ganz anders sein

Beeindruckend bereits das Cover des Romans; eine Fotografie von 3 Personen in Schwarz-Weiß gehalten, aber nur angedeutet und nie die ganze Person sichtbar - ein möglicher Einblick, den uns auch die Autorin wiedergibt, aber nur einen Einblick; es könnte nämlich auch ganz anders sein.

Wir erhalten einen Rundblick in die Welt um die Jahrhundertwende - Fotoapparate, Telefone, Droschken und Autos; Kinovorführungen, die ersten Straßenlaternen, Rezepte, Einrichtungen, Stoffe, ...vielleicht manches Mal ein wenig zu viel des Guten die Aufzählungen des Damaligen, da man geneigt ist den Faden zu verlieren (also ich zumindest).

Göttlicher Auftrag

Die Lebensinhalte sind mitunter aus Lebenslügen aufgebaut - Stefa, die Ich-Erzählerin bildet sich bis knapp vor Ende des "Theaterstücks" ein, dass Sie einen göttlichen Auftrag habe (von ihrem Retter und Gönner Dr. Anger, der am Sterbebett gesagt haben soll, dass sich Stefa immer um Adelja kümmern soll!). Und dann erfahren wir gegen Ende hin, dass dies so nie gesagt wurde und zwar von Stefa selbst, dass Sie einem Lebensirrtum aufgesessen ist, der nur mehr durch loderndes Feuer "auszutreiben" ist. Schließlich wird die Frage des Lebens gestellt, von Stefa selbst: "Was ist ein erfülltes Leben, ..."? Das Ende bleibt offen, was der Fantasie des Lesers/der Leserin nur gut tut und weitere Überlegungen märchenhaft ermöglicht.

Das Verhältnis von Knecht und Herrschaft kann auch als eine Parabel für die derzeitige politische Lage in der Ukraine gesehen und gedeutet werden, da das Buch beendet wurde, als die Ereignisse auf dem Maidan gerade voll im Gange waren.

Heile Welt vorgegaukelt

Und der Originaltitel "Felix Austria" kann als Anspielung auf die untergehende Monarchie gesehen werden, die eine noch so heile Welt vorgaukelt; doch der erste Weltkrieg steht bereits vor der Türe (noch dazu, wo der Papierjunge Felix heißt und sich überall hineinzwängen kann und verrenken kann, beinahe so wie die "Monarchie"?).

Sofia Andruchowytsch, geboren 1982 in Iwano-Frankiwsk, die Tochter des genialen Juri Andruchowytsch, der Autor und Intellektuelle der Ukraine, hat die Herausforderung angenommen aus seinen Fußstapfen herauszutreten.Man darf gespannt sein, was da noch kommt - ich freue mich.

SOFIA ANDRUCHOWYTSCH. DER PAPIERJUNGE. Roman. Residenz Verlag 2016. ISBN 978-3-7017-1663-0