ICH AN MEINER SEITE

Autorin: BIRGIT BIRNBACHER
REZENSION: Martin Heidl
"Arthur, 22, still und intelligent, hat 26 Monate im Gefängnis verbracht. Endlich wieder in Freiheit stellt er fest, dass er so leicht keine neue Chance bekommt. Ohne die passenden Papiere und Zeugnisse lässt man ihn nicht zurück ins richtige Leben. Gemeinsam mit seinem unkonventionellen Therapeuten Börd und seiner glamourösen Ersatzmutter Grazetta schmiedet er deshalb einen ausgefuchsten Plan. Eine kleine Lüge, die die große Freiheit bringen könnte ..."

Soweit der Klappentext.

Obwohl der übertreibt, denn der Lebenslauf als kleine Lüge, ist ja wohl nur ein kleines Rädchen im Lebensglück; und da könnte man sowieso hineinschreiben, was man will. Das Vorstellungsgespräch, sofern man es bis dahin schafft, ist der entscheidende Abschnitt am Weg zur Erwerbsarbeitteilhabe.

Das dreigeteilte Coverfoto in Schwarz-Weiß gehalten weist eine weiße Lücke auf, die mit dem Ich befüllt werden sollte und Birgit Birnbacher schafft das auf beeindruckende Art und Weise.

Arthurs Ich schwankt und taumelt durch die Welt des Seins in einer Aussichtslosigkeit, dass einem als Leser beinahe schwindlig wird. Mit viel Empathie und Zuwendung grast die Autorin, mit dem Soziologiestudium, aufbauend auf einer Augenoptikerlehre, im Hintergrund, die Niederungen des heranwachsenden Arthur ab. Und sie weiß, wovon sie spricht.

Eisenbahnersiedlung

Von der Eisenbahnersiedlung - "Dazwischen Abstandsgrün, Eisenstangen ohne Wäsche, quadratischer Waschbeton ..." - gleitet "... Er: Ein Kind in einem ausgeräumten Leben." nach Andalusien zum "Fremd heißen, daran muss er sich erst gewöhnen." Die "Umgebungsgeräusche" werden durch den "freien Markt" bestimmt und Arthur rauscht hindurch durch die Lebensbrüche, die sich da vor ihm auftun. Und er kann sich auf niemanden verlassen, das wird ihm schnell klar.

Eine Entwicklungsgeschichte, die mich als Leser mitnimmt und herausfordert. Und mir wird's dann zu viel des Schlechten; das ist die einzige Kritik, die ich finden kann an dem Buch. Von den Flash Backs, der Traumatisierung im Gefängnis, zum Messie-Syndrom, der Missstände in der WG, Betrug, das Nerddasein, hin zur deprimierenden Milieuschilderung zu Weihnachten. Arthur hat wahrlich nichts ausgelassen.

Die unprofessionellen Helfersysteme - "Ich bin ihre Sozialarbeiterin" - suchen ihresgleichen, und doch ich weiß, dass es sie gibt, genau in dem Ausmaß, das Birgit Birnbacher beschreibt. Gehöre ja auch zu der Zunft - ich hoffe, Sie überlesen den Satz. Andererseits kommt Arthur womöglich durch die Idee von Börd, alias Dr. Vogl, den schwerfälligen, gescheiterten Therapeuten durch das "Schwarz Sprechen" (Aufnahme der Umstände in Arthurs Leben) ein Stück weit (Sozialarbeitersprech) weiter.

Arthur sagt: "Sie" (Grazetta, die eine famose Schauspielerin war und nun im Hotel Bristol auf den Tod wartet, betreut von einer 24-Stundenpflegerin) "war es jedenfalls, die mir beibrachte: Zuerst mußt du dir den nächsten Schritt selbst erzählen. Sprich die nächste Rolle bei dir vor. Glaubst du dir? Dann ist es fast schon geschehen."

Mut zum Ungewohnten

Es geht um "Mut zum Ungewohnten" und um die "Teilhabe" an der Gesellschaft mit den richtigen aushaltbaren "Umgebungsgeräuschen" und die findet Arthur letztendlich auch. Soweit entlässt uns die Autorin in ein wünschenswertes hoffnungsfrohes Ende von Arthurs Stolperweg in eine Zukunft, die ein erfülltes Sein bringen mag.

Groteskerweise stupst ihn Börd ebenda hin; zu seinem älteren Bruder Klaus nach St. Pölten - ausgerechnet St. Pölten die ungeliebte Hauptstadt Niederösterreichs, die eigentlich alles bereithält fürs Dasein, wenn man nur genau hinsieht.

BIRGIT BIRNBACHER. ICH AN MEINER SEITE. Zsolnay. 2020. ISBN 978-3-552-05988-7