HEIMITOS RESILIENZ ODER DIE LOOS-LOSWERDUNG

Autorin: NADJA BUCHER
REZENSION: Markus Köhle
Nadja Bucher legt mit "Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung" ihren dritten Roman vor und hat sich dafür etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Der Großschriftsteller Heimito von Doderer (1896-1966) wird im Körper eines Mädchens 1976 in Wien wiedergeboren und zwar in der Doderer-Gasse und die befindet sich, das muss man als nicht dort Aufgewachsener nicht wissen, ausgerechnet in der Großfeldsiedlung. Die Großfeldsiedlung wiederum ist eine sogenannte kommunale Stadtrandsiedlung in Floridsdorf und wurde von der Stadt in den Jahren 1966-1973 als Wohnstadt für 21.000 Menschen aufgezogen.

Der Großschriftsteller also in der Großfeldsiedlung, gefangen im Körper eines Mädchens, das alles noch lernen muss und - geht es nach dem Willen Doderers - möglichst schnell lernen soll, damit Doderer dem Mädchen (Marie) seinen unvollendeten Roman Nummer 7 diktieren kann. So die Ausgangslage. Das ist ebenso originell wie delikat. Das sorgt von vornherein für Konfliktpotenzial und Reibung. Das ist ein mutiges Vorhaben. Das ist eine Gratwanderung zwischen Satire und dem Versuch, eine Kindheit der 1970er und 80er Jahre durch die Augen Doderers zu erzählen.

"Hat sie auch von mir"

In vier Kapiteln werden die ersten zehn Lebensjahre von Marie aufgearbeitet. Das reicht vom Geburtstag, über den ersten Kindergarten- und Schultag bis zum alles verändernden Freibaderlebnis. Die Buntheit einer Kindheit in dieser Zeit spannt sich auf anhand von Episoden wie: beim Laternderlumzug singen, Kastanienigeln basteln, Fluortabletten schlucken, Hausmeister besuchen, Musikvideos und Zeichentrickserien schauen, Ballettunterricht und Zahnspange über sich ergehen lassen, Liebesbriefe nicht erhalten, Stamm- und Tagebucheinträge verfassen, sich mit der lokalen Gang prügeln und langsam spüren, dass sich alles verändert. Dass sich Marie in all dem so wacker schlägt, verbucht Doderer bereitwillig für sich, führt es auf seinen guten Einfluss auf Marie zurück. "Hat sie auch von mir." (S. 119)

Natürlich hat Marie auch eine reale Verbündete. Ihre beste Freundin Isa steht ihr stets zur Seite und auch Isa ist mit einem inneren Besserwisser ausgestattet. Sie wohnt in der Adolf-Loos-Gasse, in ihr wütet also der berühmte Architekt und berüchtigte Unzuchtler Adolf Loos (1870-1933). Der hat immerhin verstanden, dass die Straßennamen-Benennung eine Verurteilung und diese Wiedergeburt eine Strafe ist: "Unsere Sinnlosigkeit zu erkennen, das gilt es zu ertragen." (S. 122) Doderer ist sturer und selbstherrlicher. Doderer glaubt an die Wirkung seines Tuns und seines Willens in Marie, Loos nicht. Doderer sieht überall Beweise dafür, Loos nicht. Wenn die beiden über den Verfall alles Lebenswerten debattieren, während ihre Wirtskörper etwas ihrem Alter entsprechend Profanes machen, führt das zu den komischsten Szenen des Buches.

Da funktioniert der Clash und kommt nebenbei auch die Kritik gut rüber, die die Autorin an den alten, weißen Männern verübt. Aber leider kommen diese viel zu viel zu Wort. Denn Doderer ist der Erzähler. Es gibt keinen auktorialen Erzähler. Immer hat Doderer die Erzählmacht. Einmal wenigstens darf auch Marie ran. Der Tagebucheintrag in ihrem Stil tut dem Roman gut, mehr davon wäre erfreulich gewesen. Denn der allwissende Doderer nervt mit der Zeit. In den Spannungsmomenten im Roman wünscht man sich ihn weg. Das ist sicher bewusst so und steht für die Dominanz der Männer im Leben von Marie. Da müssen wir als Leserinnen und Leser also durch. Vor allem aber musste Marie da durch. Dennoch: Ich zu sagen, ist eine Ermächtigung. Ein - wie auch immer geartetes Ich - zeugt von einer bewusst gewählten Erzählhaltung, der in diesem Fall ein Gegengewicht fehlt. Die Mädchen kommen gegen ihre inneren Schweinehunde nicht an, haben zu tun genug und Loos zeigt sich zwar irgendwann einsichtig, aber Menschenfreund ist und bleibt er nur in sehr spezieller Hinsicht.

Absicht sorgsam verborgen

Man wünschte sich, Lina Loos hätte die Chance auf Wiedergeburt gehabt. Aber das spielt's eben nicht, die Männer haben das Sagen, das wird sehr anschaulich und schmerzlich dargestellt. Der Weg zur Einsicht ist lang, das kann als Botschaft herausgelesen werden. Wenn sie denn dann schließlich kommt, die Einsicht, dann ist alles gut. Sie kann allerdings erst kommen, wenn es auch alte Freibad-Saubären überlauert haben, dass sie längst ausgestorben sein sollten. Ausgestorben und nicht wiedergeboren. Es braucht zehn lange Jahre, bis Doderer, durch Maries Blick auf ihre Welt, die Ungleichheit der Verhältnisse erkennt, die Ungerechtigkeiten sieht. Auf lange Lernresistenz folgt endlich Läuterung. Doderer kommt also eigentlich ganz gut weg und Loos ergreift sogar Partei für seine Wirtin, bevor er sich endgültig verzieht. Die Absicht, ein politisches, ein feministisches Buch geschrieben zu haben, wird sorgsam verborgen. Das kann man loben oder vorwerfen. Das macht das Großfeldsiedlungs-Apperzeptions-Buch zu einem, über das es sich diskutieren lässt und das ist eine große Qualität.

"Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung" ist ein Retro-Retro-Roman. Ein Roman über die 1970er und 80er Jahre in der Sprache der 1950er und 60er Jahre. Das ist konsequent durchgeführt und hat großartige Momente, denn Doderer darf nach Herzenslust seine Häme über alle und alles stülpen. Aber nicht nur in den Kommentarpassagen macht das Lesefreude, auch der Schreibdetailsinn kommt der Aufarbeitung von Kindheitserlebnissen insofern zugute, als diese Beschreibungsopulenz heutzutage befremdlich anmutet, aber eben sehr plastisch Szenen und Bilder vergangener Tage zeichnet.

Doderer als Herr

DDGoHM ist ein mutiges Buch, denn das Vorhaben ist groß und die Erwartungshaltung der Lesenden, bei einer derartigen Konstellation zu befriedigen, ist kein leichtes Unterfangen. Denn so wie Doderer im Körper von Marie gefangen ist, so ist die Geschichte vom Erzähler Doderer be- und gefangen. Einem Erzähler, der sich dauernd in den Vordergrund spielt, der sich lange in keinerlei Dienst stellt. Doderer ist Herr des Romans. Das ist Kern und Bürde desselben. Nimmt man die gegebene Grundkonstruktion an und schaut geduldig, wo diese Erzählweise hinführt, wird man am Ende belohnt werden, belohnt und überrascht.

NADJA BUCHER. DIE DODERER-GASSE ODER HEIMITOS MENSCHWERDUNG. Milena Verlag. 2020. ISBN 978-3-903184-59-6