DAS KALTE JAHR

AUTOR: ROMAN EHRLICH
REZENSION: Kathrin Kuna
Roman Ehrlich legt mit seinem Debüt einen komplex und zugleich messerscharf strukturierten Roman vor. Dass dieser emotional verstörend oder zumindest verunsichernd ist, liegt einerseits natürlich an der Geschichte, aber vor allem auch an dem Schauplatz, einem kalten, verschneiten Ort, nahe eines Militärgebiets. Als der Protagonist endlich hier an seinem Elternhaus ankommt, sind die Eltern verschwunden, dafür ist aber ein kleiner Junge im Haus, der im Kinderzimmer wohnt.

Warum versucht der Protagonist nicht seine Eltern zu finden? Warum versucht er nicht die Eltern des Jungen ausfindig zu machen? Warum erzählt er Richard, dem kleinen Jungen, stattdessen Geschichten von Auswanderern im 19. Jahrhundert und von Naturkatastrophen? Ist der kleine Junge das Innere Kind des Protagonisten? Was ist in diesem Elternhaus wirklich passiert? Auf der Basis eines skandinavisch angehauchten Thrillers, wachsen - quasi Eisblumenhaft - Säulen historischer Mini-Romane, für die der Autor tatsächlich in Archiven und Zeitschriften recherchiert hat.

Sprengkapsel vor Hinrichtung

Das ist eine sehr eigenwillige Kombination, aber sie funktioniert, da die historischen Fakten, verwoben zu kleinen Geschichten und Anekdoten zum Teil einen zermürbenden Aktualitätsbezug haben. Denn auch, wenn das Militärgebiet nahe dem Elternhaus eingeschneit ist und damit vielleicht winterlich romantisch anmuten könnte, bleibt es ein Symbol für die Unsicherheit des Friedens, ein Indikator, dass es die Absicherung braucht, sollte es doch zu einem Angriff kommen. Ebenso ruft die Geschichte des Auswanderers, der sich am Tag vor seiner Hinrichtung mit einer Sprengkapsel selbst hinrichtet, trotz der Faktentreue gegenüber dem Jahr 1886 doch auch ganz andere Bilder hervor, wenn man liest: "In der Wohnung des jungen Louis werden Pläne und Material zum Bau von Bomben gefunden, es wurde erkannt und erklärt: Der kam ins Land mit dem Vorsatz, hier einiges zu sprengen."

Die Stimmung dieses Romans hat ein bisschen etwas von Lars Van Triers "Melancholia" - bloß, dass es hier in der Literatur noch ungemütlicher ist. Nicht eine bevorstehende Naturkatastrophe schwebt bedrohlich über allen, sondern der paradoxe Widerspruch zwischen vermeintlichen Sicherheitsstrukturen der Macht und der Unberechenbarkeit der Ohnmacht, im Privaten wie im Öffentlichen: "Ich dachte an das Unheimliche, das von meinen Eltern ausging und sie gleichzeitig auch selbst ergriff. Das war kein Schrecken, keine Waffe oder offene Wunde, kein Fleck verbrannter Erde, sondern eine ein für alle Mal feststehende Ordnung, die kaum jemals etwas Beunruhigendes von sich gibt, die einfach nur da ist, mit Selbstverständlichkeit fortwirkt und all das bestimmt, was einem dann schließlich auf weiten Umwegen die Luft abschnürt."

Fragile Wahrheit

Würde die Eltern zu suchen, bedeuten, dass man akzeptiert, dass sie verschwunden sind? Roman Ehrlich will kein Plädoyer für die Vagheit und Unentschiedenheit schreiben, er entwirft nicht einen weiteren Mann ohne Eigenschaften, er zeigt auf beeindruckende Art und Weise, wie nur Literatur, nicht Philosophie oder Religion oder Wissenschaft, die Fragilität des Wahrheitsbegriffes darstellen kann.

Der Eindruck bleibt. Beeindruckend!


ROMAN EHRLICH. DAS KALTE JAHR. DuMont Buchverlag. 2013. ISBN 978-3-8321-9725-4