FLIEHEN

AUTOR: JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT
REZENSION: KATHRIN KUNA
Der zweite in deutscher Übersetzung erschienene Roman des französischen Autors, Jean-Philippe Toussaint, ist leider nicht so gelungen wie der erste. Ein Roman dessen Titel soviel Bewegung verspricht könnte lethargischer, ja starrer kaum sein. Es ist dieselbe kranke Liebesbeziehung zwischen Marie und dem Ich-Erzähler des Romans, die wir bereits aus "Sich lieben" kennen.

"Loslassen! Loslassen, sofort loslassen!", will man auch schon bei der Lektüre des ersten Romans schreien. In seinem zweiten von der Kritik aufgrund seiner sprachlichen Präzision hoch gelobten Roman muss man das dann selber tun. Wieder bewegen wir uns mit dem lakonischen Ich-Erzähler im fernen Asien. Nicht Tokio, sondern Shanghai und Peking sind dieses Mal die Orte, an die uns der französische Autor entführt. Sehr eindrücklich und mit viel Gefühl bedient er die üblichen Asienklischees, um in unserer Phantasie die richtige Kulisse für seine Erzählung, die von Entfremdung und Verlorenheit durchzogen ist, hervorzurufen.

Die Haupthandlung besteht in der Handlungsunfähigkeit des namenlosen Ich-Erzählers. Wir haben es hier nicht mit einem romantischen Träumer zu tun, auch nicht mit einem gleichgültigen Faulpelz. Es ist einer der vielen jungen, ziellosen Männer, die sich in den wenigsten Situationen ihrer Möglichkeiten, geschweige denn ihrer Verantwortung bewusst sind.

Botendienst für ehemalige Lebensgefährtin

Die ganze Geschichte beginnt schon mit einem Botendienst, den der Ich-Erzähler für seine ehemalige Lebensgefährtin Marie ausführt. Er reist nach Shanghai, um Zhang Xiangzhi, einem Mitarbeiter Maries, eine große Summe Geld zu überbringen. Dabei lernt er die schöne Li Qi kennen, die ihn einlädt, mit ihr nach Peking zu reisen. Langsam entspinnt sich zwischen den beiden - wir ahnen es bereits ein paar Seiten früher - ein Verhältnis. Wobei das eigentlich schon wieder zuviel gesagt ist. Und es ist auch fraglich, inwieweit es nicht von einer dritten Person bewusst entsponnen wurde ...

"Wir konnten uns auf der Bank kaum noch verständigen, also rückte ich näher an sie heran, aber anstatt lauter zu reden, um die Musik zu übertönen, behielt ich meine leise Stimme bei, berührte dabei ihre Haare sanft mit meinen Lippen, ganz nah ihrem Ohr, ich nahm den Geruch ihrer Haut wahr, streifte fast ihre Wange, aber sie ließ es geschehen, bewegte sich nicht, hatte nichts unternommen, um sich meiner Gegenwart zu entziehen - ich sah ihre Augen in der Dunkelheit, sie blickten in die Ferne, während sie mir zuhörte -, und ich begriff auf einmal, dass etwas Zärtliches im Entstehen war."

Zwei verlorene Seelen vereint

13 Seiten später meint der Protagonist "Nur weil es die Umstände noch nicht erlaubten, hatten wir uns noch nicht geküsst, und es war sogar denkbar, dass wir uns nie küssen würden." In der Tat dramatisch gestaltet sich der Aufbau dieser Annäherung. Und gerade, als dann doch geküsst wird, klingelt das verhasste Mobiltelefon. Marie hat angerufen. Nachdem dem Leser dann diese schicksalhafte Koinzidenz in mehreren stilistisch wunderbar reduzierten, inhaltlich dann leider aber doch sehr leeren Sätzen unter die Nase gerieben wird, erfahren wir die wirklich erschütternden Nachrichten: Maries Vater ist gestorben. Der namenlose Ich-Erzähler tritt sofort die Rückreise an, um über Shanghai so schnell als möglich zurück nach Europa, auf die Insel Elba zum Begräbnis von Maries Vater zu gelangen.

Im dritten und letzten Teil des Romans begegnen sich Marie und der Namenlose also wieder. Noch immer sind sie keinen entscheidenden Schritt weitergekommen. Doch man erkennt, dass es nicht daran liegt, dass sie nicht von einander lassen können wie der erste Roman glauben machte. Es ist viel schlimmer. Sie treten aufgrund ihrer Lethargie, die schon fast an Apathie grenzt, am Stand. Nebeneinander. Zwei verlorene Seelen in einem kitschigen Ende vereint. Fliehen ausgeschlossen.

JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT, FLIEHEN, Frankfurter Verlagsanstalt 2007, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3627001338